REAL CRIME Bustour
Programm im Rahmen der Scienne Week 2005


1. Oktober 2005
Abfahrten: um 18.00, 20.00 und 21.00

vor dem Bundeskriminalamt, Rossauer Kaserne, Schlickplatz 6, 1090 Wien

Dauer: bis zu 2 Stunden

Konzeption: Michael Zinganel



Die Bustour ist eine "motorisierte Flanerie" (Hessel) durch den Wiener Stadtraum. Sie lebt einerseits von den oralen Berichten der "professionellen" ReisebegleiterInnen, ebenso aber auch von den Imaginationen der Teilnehmenden selbst. Denn während an vielen der Tatorte keine oder kaum mehr Spuren zu erkennen sind, mag in andern Fällen das Verbrechen zwar bedeutende Umgestaltungen nach sich gezogen haben, der eigentliche Anlassfall mittlerweile aber in Vergessenheit geraten sein.

Schwerpunktthemen der Führungen:

– Die Angst vor gefährlichen Klassen, sozialen Konflikten und ihre Folgen für die Stadtgestalt
– Hochrüstung der Sicherheitstechnik infolge realer und imaginierter Verbrechen
– Import von Strategien der sozialen Kontrolle durch frauengerechte Planung


diese Themenbereiche werden in allen 3 Führungen behandelt, aber mit jeweils unterscheidlicher Gewichtung.

Ihre professionellen dabei Reisebegleiter sind:

Michael Hieslmair Architekt und Künstler, Wien
Wolfgang Maderthaner Verein für die Geschichte der Arbeiterbewegung, u. a. Co-Autor des Buches Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900
Eva Kail Stadt Wien, Leitstelle für alltags- und frauengerechtes Planen und Bauen, u. a. Auftraggeberin der Studie Richtlinien für eine sichere Stadt. Beispiele für die Planung und Gestaltung sicherer öffentlicher Räume
Max Edelbacher Leiter der Kriminalpolizei Wien-Süd, bis 2001 Vorstand des Wiener Sicherheitsbüros, u. a. Co-Autor der Wiener Kriminalchronik Tatort Wien
Michael Zinganel Kulturwissenschafter, Künstler und Architekturtheoretiker, u. a. Autor des Buches Real Crime. Architektur Stadt und Verbrechen


Tour 0 18.00 (Max Edelbacher/Michel Zinganel: 'reale' Verbrechen und Sicherheit) MUQUA, Innenring, Heldenplatz, Burgtheater, Bastei, OPEC-Gebäude, Kai, Urania, Praterstern, Nordbahnhof, Mexikoplatz, Milleniumstower, Franzensbrücke, Bahnhof Wien Mitte, Schwarzenbergplatz, Karlsplatz, Oper, Operngasse


Tour 1 18.00 (Michael Hiesmair/Eva Kail: alltags und frauengerechte Stadtplanung) Rossauerkaserne, Votivkirche, Innenring, Kai, Urania, Praterstern, Stuwerviertel, Tangente, Verteilerkreis, Per Albin Hanssen Siedlung, Spinnerin am Kreuz, Margarethengürtel, St. Johann Park, Operngasse

Tour 2 20.00 (Max Edelbacher/Michel Zinganel: 'reale' Verbrechen und Sicherheit) Rossauerkaserne, Votivkirche, 2er-Linie, Innenring, Burgtheater, OPEC-Gebäude, Kai, Urania, Praterstern, Nordbahnhof, Mexikoplatz, Milleniumstower, Franzensbrücke, Bahnhof Wien Mitte, Schwarzenbergplatz, Oper, Operngasse

Tour 3 21.00 (Michael Hiesmair/Wolfgang Maderthaner: Klassenkampf und Kontrolle) Rossauerkaserne, Votivkirche, Aussenringring, Neustiftgasse, Schmelz, Gürtel, Westbahnhof, Margarethengürtel, Meidling, Fürstenfeldhof, Matteottihof, Margarethengürtel, Mariahilferstrasse, Innenring


Tipps: die ersten beiden Touren enden in der Operngasse 20 B, 1040 Wien, im Österreichischen Institut für Internationale Politik (OIIP), und ermöglichen daher den anschließenden Besuch der Veranstaltung „Sicherheit – In einer unsicheren Welt?“
Die letzte Tour führt kurz vor Ende durch die Mariahilferstrasse und ermöglicht einen Besuch des Elektro Gönner und endet dann um 23.00 vor dem Museumsquartier.
Als Ergänzung empfehle ich weiters die Führungen, die der Flughafen Wien Schwechat im Rahmen der Langen Nacht der Forschung anbietet.




Stadtgeschichtlicher Hintergrund der REAL CRIME Bustours

Crime does not pay! Falsch, schreibt Karl Marx in seinen Bemerkungen über die Produktivkraft des Verbrechens. Denn ihm zufolge produziert ‚der Verbrecher’ nicht nur das Verbrechen selbst, sondern auch alle Formen der Kriminalberichterstattung, in den schönen Künsten, in der Wissenschaft und in den Massenmedien, die Strafjustiz und nicht zuletzt alle gegen das Verbrechen gerichteten Maßnahmen. Die Angst vor dem Anderen, dem Fremden, dem realen oder auch nur imaginierten Verbrechen bildet sich unzähligen präventiven sicherheitstechnischen, architektonischen und städtebaulichen Maßnahmen ab: in Fortifikationsanlagen gegen die Feinde von außen und in Kontrollarchitekturen gegen die Feinde von innen. Das Verbrechen – so Marx – ist dabei produktiver als so manch anständiges Gewerbe.




Auch im vergleichsweise sehr sicheren Wien, das sich dieser Sicherheit als zentralem sanften Standortfaktor rühmen kann, lassen sich bis heute historische militärstrategischen und soziale Demarkationslinien entweder direkt ablesen, oder zumindest rekonstruieren: die bekanntesten dieser Grenzlinien sind die Ringstrasse und der Gürtel, beide früher Fortifikationsanlagen gegen die Feinde von außen, aber auch Steuergrenzen, und daher soziale Grenzen zwischen mehr oder weniger wohlhabenden Schichten. Ab 1858 wurden aus der inneren Grenzlinie der Prachtboulevard des Bürgertums und ab 1921 aus der äußeren der Prachtboulevard des Proletariats. Die neue Ringstrasse wurde aber gleichzeitig auch als Aufmarschzone der staatlichen Sicherheitsorgane konzipiert, zuerst als Prävention gegen revolutionäre Bürger, die sich wieder gegen den Kaiser erheben könnten, dann gegen die „gefährlichen Klassen“ aus der Vorstadt, die nun auch das Bürgertum fürchtete.





Auch wenn die soziale Durchmischung der Wiener Bezirke im Vergleich zu anderen Städten dieser Größenordnung auffallend hoch ist, und auch wenn Ring und Gürtel heute in erster Linie wichtige Verkehrsachsen darstellen, die ebenso verbindend wirken wie trennend, so haben sich diese Straßenzüge als imaginäre soziale Grenzen in den Köpfen der Wiener und Wienrinnen tief eingeschrieben, sie scheinen sich im mentalen Plan der Stadt äußerst hartnäckig zu halten.

In Wien lassen sich aber auch bemerkenswerte Beiträge zum aktuellen Sicherheitsdiskurs finden: so konnten 1998/99 anlässlich einer Serie von Gewaltverbrechen in einem fordistischen Massenwohnungsbau der Nachkriegszeit von feministischen Stadtplanerinnen endlich kleine Forschungsprojekte zu Verbesserung der Sicherheit im öffentlichen Raum lukriert werden. Die Thesen der neuen Kontrollstrategien, die sie aus US-amerikanischen Diskursen übernahmen, konnten dann in kleinen Maßstäben auch umgesetzt werden: auf den Prinzipien der verbesserten sozialen Kontrolle durch Erhöhung der sozialen Dichte bei gleichzeitiger Übersicht und Einsehbarkeit durch entsprechende Gestaltung und Beleuchtung basieren beispielsweise die Neugestaltung des Gürtels und der St. Johanna Park am Gürtel. Interessant dabei ist, dass die Angst gerade deshalb so schnell produktiv gemacht werden konnte, weil die involvierten Orte, der Gürtel und das Massenwohnquartier am Wienerberg aus der Sicht des Bürgertums immer schon als No Go Areas diabolisiert wurden, ob von Literaten wie beispielsweise Stefan Zweig, oder von Volksbildner wie Hermann Drawe, der 1904 in Form extrem populärer Diavorträge in der Urania seinem bürgerlichen Wiener Publikum in Diavorträgen Führungen „durch die Wiener Quartiere des Elends und Verbrechens“ anbot: die einschlägigen Orte waren demnach bereits damals der Gürtel, die Praterauen, die Unterwelt des Kanalsystems und die Ziegelöfen am Wienerberg, genau dort wo heute die großen Wohnanlagen der Nachkriegszeit stehen.

Ein weiteres inhaltlich relevantes Anfahrtsziel neben der Ringstrasse, dem Gürtel und dem Olaf-Palme-Hof ist der Milleniums-Tower als Beispiel, wie in einem typischen großformatigen Investorenprojekt, einem zeitgemäßen Mixed Use Development aus Shopping Mall, Kino-Center und Büroturm, smarte moderne Kontrolltechnologien zur Ein- und Ausgrenzung erwünschter oder unerwünschter Subjekte eingesetzt werden, so wohl dosiert, dass der Spaß am Konsumerlebnis weder durch die Präsenz von martialischen Sicherheitstruppen noch durch Präsenz von Armut beeinträchtigt wird.

Michael Zinganel

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